Judicial Bias: Welche Einflüsse implizite Biases auf juristische Entscheidungen haben können.
Allen Peters, ein in Florida lebender Siebzehnjähriger, der bereits in der Jugend strafffällig geworden war, überfällt bewaffnet eine Tankstelle und erbeutet 640$. Vor Gericht bekennt er sich schuldig und wird zu einer Bewährungsstrafe von 72 Monaten verurteilt, ins Gefängnis muss er nicht.
Jaquavius Sturgis, ein in Florida lebender Siebzehnjähriger, der bereits in der Jugend strafffällig geworden war, überfällt bewaffnet einen Gemischtwarenladen, erbeutet 300$, eine Halskette und die Brieftasche des Betreibers. Vor Gericht bekennt er sich schuldig und wird zu 24 Monaten Bewährung und einer Gefängnisstrafe von 4 Jahren verurteilt.
Der einzige Unterschied zwischen den Beiden: Jaquavius ist schwarz.
Diese Geschichte ist weit davon entfernt ein Einzelfall zu sein. Nein, Geschichten wie diese kommen so häufig vor, dass man hier nicht mehr von offenem Rassismus sprechen kann. Ungerechtfertigt hohe Strafen für Afroamerikaner*innen im Vergleich zu Weißen kommen vor, obwohl Jury und Richter_in mit Rücksicht auf mögliche rassistischer Vorurteile ausgewählt werden. Und sie kommen sogar vor, wenn Richter*innen selbst Afroamerikaner*innen sind und/oder die Jury zum größten Teil aus Minoritäten besteht.
Die psychologische Forschung geht davon aus, dass hier Judicial Bias, das sind Urteilsheuristiken und implizite Biases (auch kognitive Verzerrungen oder unbewusste Vorurteile genannt) eine große, für das Individuum lebensverändernde Rolle spielen.
Der vollkommen objektive Richter: ein Mythos
Lange wurde die Objektivität von Richter*innen als unumstößlicher Fakt angenommen. Selbst als in den 1960ern die ersten Studien zu Heuristiken und impliziten Biases publiziert wurden und dieser Forschungszweig bis heute immer mehr Fahrt aufnahm, blieb eine Anwendung der Erkenntnisse auf die Justiz lange aus.
Es ist praktisch unmöglich in einer Gesellschaft sozialisiert zu werden, ohne Stereotype über die in der Gesellschaft vorhandenen Ethnien zu erlernen. Schon im Alter von drei Jahren lassen sich solche Vorurteile nachweisen, selbst Angehörige einer marginalisierten Gruppe bilden die selben Vorurteile über die eigene Gruppe wie Angehörige der anderen Gruppen. Es wäre also vermessen anzunehmen, dass sich diese Lernerfahrung nicht auch auf das Handeln von Richter*innen auswirken würde.
Diese während der Sozialisierung erlernten Vorurteile führen allerdings in den seltensten Fällen zu offenem oder gar bewussten Rassismus, vielmehr schlummern diese in unserem Unterbewusstsein und beeinflussen als implizite Biases unser Verhalten.
Eine der wahrscheinlich berühmtesten psychologischen Tests, der Implicit Association Test (IAT), untersucht über Reaktionszeitmessungen diese unbewussten Vorurteile. Fast drei Viertel der Personen, die diesen im Internet freizugänglichen Test durchgeführt haben, zeigen Biases gegenüber Menschen anderer Hautfarbe. Richter*innen bilden hier keine Ausnahme und zeigen die selbe Häufigkeit von impliziten Vorurteilen wie die allgemeine Bevölkerung.
Doch wie können Judicial Bias einen Gerichtsprozess beeinflussen?
Faustregeln und Stereotype als Auslöser impliziter Vorurteile
„In jeden Richterspruch fließt ein emotionales Moment ein. Welcher Zeuge glaubwürdig oder unglaubwürdig ist, welche Fakten als wichtig, welche als zweitrangig erachtet werden. All diese Fragen unterliegen immer einer persönlichen Wertung des Richters“
Ruth Eulering, Leiterin der Justizakademie Nordrhein-Westfalen
Die Forschungen legen nahe, dass die Natur menschlichen Denkens in Entscheidungssituationen unter Unsicherheit dazu führt, dass Richter*innen in bestimmten Situationen Urteilsheuristiken, wie beispielsweise Faustregeln und Stereotype, verwenden. Mit diesem, meist unbewussten Prozess, werden komplexe Urteile vereinfacht. Es kann aber auch zu systematischen Verzerrungen und Abweichungen von einer rationalen Entscheidung führen (vgl. Schweizer, 2005).
Justin Levinson (2007) lies beispielsweise Probanden die Schilderung eines Verbrechens durchlesen und untersuchte welche Details sich diese nach einer Ablenkungsaufgabe gemerkt hatten. Die Ethnie der in der Schilderung involvierten Personen wurde dabei variiert. War die Person in der Geschichte schwarz wurden signifikant mehr aggressive Fakten des Tatbestands wiedergegeben. Personen waren dieser Gedächtnisverzerrung, unabhängig von ihren expliziten und bewusst erlebten Vorurteilen gegenüber anderen Ethnien ausgesetzt.
Grundlage für Judicial Biases können nicht nur die Hautfarbe oder die Ethnie eines Menschen, sondern auch seine Gesichtszüge sein. Untersuchungen von Gerichtsverfahren haben ergeben, dass beispielsweise Beschuldigte mit einem „Babyface“ größere Chancen haben, freigesprochen zu werden, als Angeklagte mit einem harten Antlitz.
Es sei aber erwähnt, dass solche empirische Studien zu den genauen Wirkmechanismen von Juridicial Bias in Gerichtsverfahren rar gesät sind. Vor allem im Hinblick auf die Tragweite juristischer Entscheidungen für den/die Einzelne*n, kann ein diesbezüglicher Apell in Richtung psychologischer und juristischer Forschungstreibenden nicht ausbleiben.
Was kann man gegen den Einfluss impliziter Verzerrungen in der Justiz unternehmen?
Es gab und gibt eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen den verheerenden Einfluss von Judicial Bias auf die Rechtsprechung zu mindern. Auf diese wird im nächsten Teil dieser Serie eingegangen werden.
Weiterführendes:
- Implicit Association Test: https://implicit.harvard.edu/implicit/
- Levinson, J. D. (2007): Forgotten Racial Equality: Implicit Bias, Decisionmaking, and Misremembering. Duke Law Journal, 57.
- Bennett, M. W. (2010): Unraveling the Gordian Knot of Implicit Bias in Jury Selection: The Problems of Judge- Dominated Voir Dire, the Failed Promise of Batson, and Proposed Solutions. Harvard Law & Policy Review, 40.
- Schweizer, Mark (2005): Kognitive Täuschungen vor Gericht: eine empirische Studie. Dissertation.
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